Eigenbrötler und Freigeist

80 Jahre wäre mein Papa heute alt – und würde wohl immer noch von Abenteuern in fernen Ländern träumen.

Mein Vater, der rastlose Eigenbrötler und Freigeist, der voll von großartigen Ideen war, sich bei der Verwirklichung aber oft selbst im Weg stand. Ein Vater, der zwar hin und wieder zuhause, aber geistig nie wirklich anwesend war und der sich die Geburtstage seiner Kinder nicht merken konnte. Eine meiner frühesten Erinnerungen an ihn ist, wie ich auf seinem Schoß sitze und er mich „Sasn“ nennt – es war seine Art, mir Zuneigung zu zeigen. Manchmal betrachte ich ein Foto von ihm und mir, er sitzt Zeitung lesend in einem Liegestuhl, ich kauere daneben auf dem Boden und grinse in die Kamera, und ich weiß, dass dieses Bild seine Beziehung zu uns Kindern ziemlich genau auf den Punkt trifft. Ich muss damals um die drei Jahre alt gewesen sein.
papa1Ein Jahr später reichte meine Mutter die Scheidung ein und ich sah meinen Papa nur noch sporadisch wieder. Umso mehr genoss ich die seltenen Wochenenden mit ihm, seine Schrullen und unorthodoxen Späße. Als ich erwachsen wurde, konfrontierte ich ihn mit der Tatsache, dass er nie für uns da gewesen war, überhäufte ihn mit Vorwürfen. Und machte die Erfahrung, dass er sich mir gegenüber öffnete und meinen vielen Fragen standhielt. Ich begann zu begreifen, was er in seiner Kindheit durchgemacht hatte: Mitten im 2. Weltkrieg geboren, die Mutter kurz nach der Geburt verstorben, vom Vater abgelehnt, nur knapp eine Bombardierung Wiens überlebt. Ich liebte es, mit ihm alte Fotos anzusehen, auf denen er lässig vor einem Motorrad posiert und bis heute habe ich eine Schwäche für Lederjacken – und für Männer mit Brillen.
Ich söhnte mich mit meinem Vater aus, besuchte ihn regelmäßig in Linz und hin und wieder kam er nach Wien. Dann holte ich ihn vom Westbahnhof ab, wir tranken einen Kaffee im Westend und spazierten die Mariahilfer Straße hinunter. Er erzählte mir von seinen Jobs im Ausland, er hatte in Argentinien, Algerien und der Schweiz gearbeitet.
Ich bin froh über unsere Annäherung, denn er starb plötzlich und viel zu früh, mit 60 Jahren. Kurz davor war eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter gewesen, er hatte wieder einmal die Geburtstage von mir und meiner Schwester verwechselt. Als Strafe beschloss ich, ihn zappeln zu lassen und nicht gleich zurück zu rufen. Zwei Tage später erfuhr ich, dass er in seiner kleinen Linzer Wohnung einem Herzinfarkt erlegen war.
Als ich wenig später die Wohnung betrat, zog es mir das Herz zusammen: da lag seine Brille am Couchtisch, daneben ein Aschenbecher und eine Tasse Kaffee – als wäre er eben aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen…
Manchmal wünsche ich mir, er könnte mich heute sehen und bin sicher, er wäre stolz auf mich. Er war immer der Meinung, ich solle schreiben, lange bevor ich mir selbst das zutraute. Viel später erfuhr ich von seiner zweiten Frau, dass er zwei Leidenschaften gehabt hatte: schreiben und singen – genau wie ich. Wenn ich daran denke, stelle ich mir vor, wie er mir von da oben zuzwinkert und einen Witz darüber reißt.

3 Antworten auf “Eigenbrötler und Freigeist”

  1. Dieser Artikel hat mich sehr berührt und, ja, sogar zu Tränen gerührt (war ich an dem Tag beim Lesen grad zu dünnhäutig? oder ist der Artikel tatsächlich so gut geschrieben?) ! Er zeigt auch recht gut, was einem durch übermäßigen Stolz oder verletztes Ehrgefühl entgehen kann …

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  2. Vielen Dank für diese gefühlvolle Lebensgeschichte. Mir ist es wie Richard ergangen,
    das Thema hat mich getroffen.
    Meinen Vater ist vor meiner Geburt verstorben. In nicht kennengelernt zu haben bedauere ich als nun 60-Jähriger mehr als in meiner Jugend.

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