Den eigenen Weg gehen

Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, auf meine innere Stimme zu hören. Das bedeutet, dass ich Entscheidungen oft spontan und aus dem Bauch heraus treffe. Es kann auch bedeuten, dass ich Dinge nicht tue, die andere von mir erwarten, wenn es sich nicht gut für mich anfühlt. Dann kann es vorkommen, dass andere sich vor den Kopf gestoßen fühlen. Es kommt vor, dass ich egoistisch genannt werde. Ich nenne es Selbstfürsorge: Ich sorge für mich, indem ich darauf achte, was mein Körper und – ebenso wichtig – meine Seele gerade braucht. Wenn ich Hunger habe, esse ich. Wenn ich mich in Gesellschaft anderer nicht wohl fühle, verabschiede ich mich. Da ich gelernt habe, in mich hinein zu spüren, nehme ich mehr von den Menschen um mich herum wahr. Ich erkenne sehr schnell, wenn jemand nicht authentisch ist.

Ich habe mir viele Freiheiten in meinem Leben erarbeitet, habe mich selbständig gemacht, weil das meinem Naturell entspricht. Als ich Kinder bekam, war es oft ein Balanceakt zwischen dem Leben als Mutter und dem Bedürfnis nach Zeit für mich. Ich war für meine Kinder da, wenn sie mich brauchten, habe mir aber auch meine Auszeiten genommen. Je älter ich werde, desto kompromissloser werde ich. Es ist mir nicht mehr so wichtig, was andere von mir denken. Ich habe gelernt, Grenzen zu setzen und im richtigen Moment Nein zu sagen. Das bedeutet nicht, dass mir andere Menschen egal sind, ich fühle mich vielen sehr verbunden. Je älter ich werde, desto mehr kann ich zu mir und meinen Werten stehen – auch wenn ich damit anecke. Wenn ich Ungerechtigkeit sehe, mache ich darauf aufmerksam.

Auf meinem ganz eigenen Weg unterwegs zu sein, fühlt sich gut an, ist aber auch herausfordernd und nicht jeder kann damit umgehen. Es gibt ein in Zitat von Maya Angelou, das ich sehr mag: „Man ist erst dann frei, wenn man erkennt, dass man nirgendwo hingehört. Man gehört überall hin – und nirgends. Der Preis ist hoch. Die Belohnung auch.“

Abschied und Neubeginn

Seit einigen Monaten fühlt sich mein Leben wie ein einziger Abschied an: von meinem Leben mit Mann, Kind und Katze, von den Erwartungen an meine Beziehung, die sich nicht erfüllten. Von Lebensumständen, die sich am Ende nicht mehr richtig anfühlten. Und nun musste ich auch noch einem engen Familienmitglied Lebewohl sagen.

In manchen Bereichen war der Abschied endgültig, in manchen vollzieht er sich schrittweise. Meine Tochter wird nun erwachsen und muss sich von ihrer Mutter lösen. Und auch wenn es noch so sehr schmerzt, ist einmal mehr Loslassen gefragt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, sich vom mütterlichen Einfluss abzugrenzen und möchte ihr diesen Schritt leichter machen als er für mich war.

Ich verabschiede mich nun von meinem Leben in der Stadt, denn mit dem Herzen bin ich längst woanders. Es könnte auch ein – zumindest vorübergehender – Abschied von meinem seßhaften Leben werden. Reisen, eine Weile in einem anderen Land leben, Wohnen gegen Mithilfe – alles ist möglich, das Abenteuer ruft. Nach über zwanzig Jahren Leben mit Kindern ist nun die Zeit gekommen, loszuziehen – etwas, wovon ich mein ganzes Leben geträumt habe. Letztendlich ist es auch der Abschied von einem System, in dem ich mich schon lange nicht mehr wohlfühle.

Wenn mir das Herz schwer wird, denke ich daran, dass jeder Abschied auch ein Neubeginn ist. Wie Hermann Hesse in einem meiner Lieblingsgedichte schreibt:

„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Vom Wachsen und Reifen

Meine Tochter, wie sie leibt und lebt: überbordende Lebensfreude, ein großes Herz und komisches Talent, das mich verlässlich zum Lachen bringt. Es ist noch nicht lange her, dass dieses Mädchen mich immer wieder herausgefordert und mir klipp und klar Grenzen gesetzt hat. Bis ich kapierte, dass sie nun erwachsen wird und endgültig ihren eigenen Weg gehen möchte. Einmal mehr war loslassen gefragt.

Wir zwei haben es uns nicht immer leicht gemacht: eine Mutter mit Hang zum Perfektionismus und dieses Mädchen, das uns recht bald zu verstehen gab, dass sie ihren eigenen Kopf hat. Ich erinnere mich gut an eine Begebenheit, als sie etwa vier war: Sie hatte Durchfall, wollte aber unbedingt Kakao trinken. Ich verweigerte, weil ich überzeugt war, dass es ihr nicht guttun würde. Doch sie war so hartnäckig, dass ich ihr schließlich den Kakao machte – und es war kein Problem. Damals verstand ich, dass sie ihre eigenen Erfahrungen machen wollte und musste.

Meine Tochter ist in manchen Dingen das Gegenteil von mir: extravertiert, übersprudelnd. Das war für mich nicht immer leicht, manchmal war ich von ihrem Temperament überfordert. Doch letztendlich habe ich durch sie gelernt, mich zu öffnen, bin mit ihr gewachsen. Relativ bald wurde auch klar, dass jede Art von Druck – ob in der Schule, beim Lernen eines Instruments oder bei Hausaufgaben – kontraproduktiv war. Sie machte uns unmissverständlich klar, dass sie unter Druck nicht funktionieren würde – was letztendlich dazu führte, dass sie vom Gymnasium in eine Waldorfschule wechselte. Es war die beste Entscheidung, die wir für dieses kreative und talentierte Mädchen treffen konnten. Sie singt leidenschaftlich gerne, spielt Gitarre und Klavier – und zwar dann, wenn sie gerade Lust dazu hat.

Ich denke, unser Bemühen, ihr auf Augenhöhe zu begegnen, hat auch dazu geführt, dass sie sich keinem Gruppendruck beugt. Sie ist eine der wenigen in ihrem Freundeskreis, die keinen Alkohol trinkt. Neulich hat sie uns erzählt, dass sie mit Freunden in einem Pub war, wo sie Karten spielten. Weil sie gewann, spendierten die anderen ihr einen Drink. Ihre Wahl: Zitronenlimonade.

Nun geht ein Schuljahr, das es den Schülern nicht immer leicht gemacht hat, zu Ende. Zu sehen, wie dieses Mädchen sich trotz aller Schwierigkeiten in diesem Jahr zu einer empathischen und selbstbewussten jungen Frau entwickelt hat, ist das schönste Geschenk für uns Eltern. Als ich sie neulich spontan umarmte und meinte, wie schön ich es fände, dass dies nun wieder möglich sei, sagte sie, mit diesem für sie typischen schelmischen Blick: „Weißt du, irgendwann ist es halt auch vorbei mit der Pubertät!“

Zurück zur Natur

Ich sitze in der Abendsonne auf unserem Balkon, beobachte einen Vogelschwarm am sich verfärbenden Himmel. Die Nachbarskatze spaziert mitten auf der Straße und mit hoch erhobenem Kopf  vorbei. Es riecht nach frisch gemähtem Gras, bis auf Autogeräusche in weiter Ferne ist nichts zu hören. Ich atme tief die frische Luft ein und fühle mich bis in die Zehenspitzen wohl in meiner Haut.

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(c) privat

Wenn mir vor zwei Jahren jemand gesagt hätte, dass ich in naher Zukunft das Stadtleben mit Freude gegen ein Leben auf dem Land tauschen würde, hätte ich wohl herzlich gelacht. Ich bin in der Großstadt geboren und aufgewachsen und habe mich immer als Stadtkind betrachtet. Ich liebte die Möglichkeiten, die die Stadt bietet, die Anonymität, die Vielfalt der Bewohner und Bewohnerinnen, das kulturelle Angebot und die Tatsache, dass ich hier kein Auto brauche (auch wenn es viel zu viele Autos gibt). Ich erzählte jedem, der es hören wollte, dass ich in einer der lebenswertesten Städte der Welt wohne. Doch seit einigen Jahren wächst meine Sehnsucht nach Natur im gleichen Maße wie der Widerwillen gegen Autolärm und zubetonierte Flächen.

Zum Glück habe ich dank meinem Mann seit Jahren eine zweite Heimat im Salzkammergut, die mir mehr und mehr ans Herz wächst. Plötzlich kann ich mir vorstellen, für immer hier zu leben. Auf dem Weg dorthin fährt die Bahn auf dem letzten Teil der Strecke entlang des Traunsees und an diesem Punkt fängt mein Herz verlässlich zu hüpfen an. Auch nach ungezählten Fahrten drücke ich mir noch die Nase platt, um diese Schönheit in mich aufzunehmen.

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(c) Susanne Wolf

Die Stille in unserer Straße, der Garten vor der Türe und der Wald gleich um die Ecke, dazu Freunde, die in Gehweite wohnen und nachts ein großartiger Sternenhimmel. Ich stehe in der Früh auf, ziehe mir meine Laufschuhe an und laufe nach hinten in den Wald, bis zu einer Stelle am Fluss, wo ich mich gerne niederlasse und dem Rauschen des Wassers lausche. Hier gelingt es mir am besten, in mich hineinzuspüren und ganz bei mir zu sein. Auch das Laufen fällt mir hier leicht, während ich mich in Wien kaum noch dazu motivieren kann.

Es mag mit meinem fortgeschrittenen Alter zusammen hängen, oder auch mit meiner wachsenden Naturverbundenheit angesichts des Zustands unserer Umwelt – die Vorteile der Stadt rücken zusehends in den Hintergrund. Kultur? Gibt es auch hier. Vielfalt? Die finde ich in der Natur. Auch die Anonymität hat ihren Reiz verloren – zu oft habe ich es in der Stadt erlebt, dass Menschen an Mitmenschen, die bewegungslos auf dem Boden liegen (schlafend? bewusstlos?), einfach vorbeigehen oder Andere, die offensichtlich Hilfe brauchen, ignorieren. Die Spaltung der Gesellschaft, die Abgetrenntheit der Menschen von der Natur erscheint mir in der Stadt noch größer als anderswo. Je mehr ich mich mit der Bedeutung der Natur und des Waldes für unser Wohlbefinden beschäftige, desto weniger möchte ich darauf verzichten. Mehr und mehr wächst in mir das Bewusstsein, dass ich ohne Natur nicht mehr leben möchte, und dass es mir nicht ausreicht, hin und wieder einen Ausflug zu machen. Wenn Freunde über meinen Gesinnungswandel überrascht sind und mich an die lebenswerte Stadt erinnern, lautet meine Antwort: Ja eh, aber.. Stadt.

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Noch hält mich meine Familie in der Stadt, meine Tochter geht hier zur Schule. Doch die Besuche in der zweiten Heimat werden mehr und länger – und ich plane, in Zukunft noch mehr Zeit dort zu verbringen. Zum Glück kann ich meine Arbeit dank Laptop und Internet fast überall erledigen, das macht mich flexibel und ortsungebunden – und das ist genau die Freiheit, die ich brauche.

Zurück zu mir

Je älter ich werde, desto klarer wird mir: Ich will nicht mehr um jeden Preis funktionieren müssen, will nicht mehr zu einem System beitragen, das uns in den Abgrund treibt. Will mich spüren, ganz bei mir sein, frei von Zwängen und Leistungsdruck. Ich träume davon, mich mehr mit der Natur zu verbinden, Teil von ihr zu werden, in ihrem Rhythmus zu schwingen.

Ich habe lange genug funktioniert und mich angepasst, habe mich jahrelang verbiegen lassen. Von Menschen, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um mich zu sehen, von einem Schulsystem, in dem die eigene Meinung nicht gefragt war. Ich habe dem patriarchalen System gedient, mich Männern untergeordnet, mich für sie aufgehübscht, mich klein halten lassen und klein gemacht. Suchte Bestätigung von außen, weil ich sie in mir nicht fand, hielt mich für dumm, traute mir zu wenig zu. Ich wurde Teil der Konsumgesellschaft, weil sie mir für einige Stunden und Tage das Gefühl gab, etwas wert zu sein. Ich kaufte, um anderen zu gefallen und einem Schönheitsideal zu entsprechen. Ich flog um die halbe Welt, um mich abzulenken, scheinbar auf der Suche nach mir selbst, in Wahrheit aber auf der Flucht vor mir. Ich rauchte, trank zu viel, behandelte meinen Körper mit der größtmöglichen Sorglosigkeit. Ich verlor mich, verliebte mich, wieder und wieder, nur um festzustellen, dass ich zuerst mich selbst lieben lernen musste. Ich behandelte Menschen, denen ich etwas bedeutete, ohne Respekt, weil ich nicht begreifen konnte, weshalb sie ihre Liebe an mich verschwendeten.

Nun bin ich in der zweiten Hälfte meines Lebens und die Prioritäten haben sich geändert. Ich habe zwei Kinder groß gezogen und dabei Höhen und Tiefen erlebt. Habe gelernt zu lieben und mich lieben zu lassen, mir den Stellenwert einzuräumen, den ich verdient habe. Und, wie wichtig es ist, gut für mich zu sorgen, mir Freiräume zu nehmen. Nun wartet die nächste Herausforderung: die verflixten Wechseljahre. Die Nächte werden kürzer – aber nicht etwa, weil ich so viel feiere, sondern nachts wach liege – und die Augenringe immer tiefer. Neuerdings gehe ich nicht mehr außer Haus, ohne mich zu schminken, um niemanden zu verschrecken. Meine Stimmungen fahren Achterbahn und mein Herz macht Bocksprünge, ohne mich vorzuwarnen. Und meine schlanke Taille ist endgültig Vergangenheit.
Komischerweise redet kaum eine Frau über diese Zeit, obwohl doch laut Statistik zwei Drittel Beschwerden haben, ein Drittel davon starke. Statt dazu zu stehen und Verständnis einzufordern machen viele weiter, als ob nichts wäre, genauso wie sie es schon immer getan haben. Zum Glück hat das Älter werden auch Vorteile: Ich lasse mir nicht mehr so viel gefallen, stehe zu meiner Meinung, kann besser Nein sagen. Es ist nicht mehr so wichtig, was andere von mir denken – und ich mag meine Lachfalten. 🙂

Übrigens kommen auch Männer ins Klimakterium – das heißt dann Andropause – und die reden erst recht nicht darüber. Männer und Schwäche zeigen? Schwierig. Vielleicht können wir Frauen mit gutem Beispiel vorangehen und beweisen, dass nichts passiert, wenn wir mal Schwäche zeigen. Sondern dass es im Gegenteil ein Zeichen von Stärke ist, gut auf uns zu schauen und darüber zu reden, wie es uns geht – und uns Hilfe zu holen, wenn wir nicht mehr weiter wissen. Gut zu sich selbst zu sein und sich zu spüren ist allerdings in unserer leistungsorientierten Gesellschaft verdächtig, Begriffe wie Achtsamkeit und Selbstfürsorge landen schnell in der Esoterik-Schublade. Umso wichtiger finde ich es, zu unseren Bedürfnissen zu stehen.

Das Schöne an dieser Lebensphase: Ich fühle mich meinem Mann verbundener denn je, wenn wir abends auf der Couch zusammensacken und uns nicht mehr von der Stelle rühren. Statt mich als Opfer der Umstände zu sehen habe ich beschlossen, die Signale meines Körpers als Anlass nehmen, in mich hinein zu spüren: Was brauche ich gerade? Was tut mir gut? Bin ich in meinem Rhythmus, lasse ich mich zu sehr unter Druck setzen oder setze ich mich selbst unter Druck? Wenn ich nach einer unruhigen Nacht müde bin, will ich dieser Müdigkeit nachgeben dürfen und mich nicht zu Höchstleistungen zwingen müssen. Vor allem will ich meiner Tochter vorleben, was es bedeutet, die eigenen Bedürfnisse wichtig zu nehmen und sich selbst zu spüren. Zum Glück bin ich selbständig und kann mir meine Zeit gut einteilen – und dennoch fühle ich mich manchmal wie im Hamsterrad.

Irgendwann, als ich wieder einmal erschöpft vor meinem Computer saß und keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, beschloss ich, wieder besser für mich zu sorgen und sanfter zu mir selbst zu sein. Nicht mehr alles gleichzeitig erledigen zu wollen (arbeiten, Mails checken, facebooken, telefonieren) sondern mir endlich eingestehen, dass ich nicht für Multitasking geschaffen bin. Zu diesem Zwecke habe ich mir einen Zettel über meinen Schreibtisch gehängt: Eins nach dem anderen – und siehe da, es hilft! Immer, wenn ich merke, dass ich mich zu sehr anspanne, atme ich tief durch und konzentriere mich auf den Moment. Immer öfter zieht es mich in den Wald, wo ich besonders gut Energien tanken kann.
Auch wenn ich nicht von einem Tag auf den anderen alles richtig mache, bin ich doch zufrieden mit mir. Ich habe beschlossen, dass ich nicht mehr funktionieren muss.

Der Sprung ins kalte Wasser

Einer meiner Lieblingsfilme ist „A Star is born“, der auf berührende und sensible Weise die Liebesgeschichte zwischen einer aufstrebenden Sängerin und einem abgehalfterten Rockstar mit Alkoholproblemen erzählt. Darin gibt es eine Szene, in der die noch unbekannte Sängerin Ally von Jack auf die Bühne geholt wird, um gemeinsam einen von ihr komponierten Song zu singen. Der Moment, in dem sie, nach anfänglichem Zögern und noch am Rand der Bühne stehend, beschließt, da hinaus zu gehen und vor einem Riesenpublikum zu singen, ist etwas, das ich nur allzu gut kenne.

Ich habe es immer schon gebraucht, dieses Gefühl, über meinen eigenen Schatten zu springen und meinen Ängsten ein Schnippchen zu schlagen. Wenn ich als Kind im Freibad vom 10 Meter-Turm sprang, gab es diesen entscheidenden Moment vor dem Sprung: Ich trat einen Schritt von der Kante des Sprungbretts zurück, um nicht in die Tiefe blicken zu müssen – in der Gewissheit, dass das Becken darunter für Schwimmer gesperrt war – schaltete mein Hirn aus, machte einen Schritt nach vorne und sprang. Ich liebte das Gefühl des freien Falls und den Moment, da ich ins Wasser eintauchte und in die Tiefe sank, außer Atem von der Aufregung vor dem Sprung. Ich erinnere mich, wie ich mit dem letzten Rest von Luft in meiner Lunge so schnell wie möglich an die Oberfläche schwamm und das köstliche Gefühl, wenn die Luft wieder in meine Lungen strömte.

Zwar springe ich heute nicht mehr vom 10 Meter-Brett, aber die Suche nach Herausforderungen und Abenteuern hat mich meine Leben lang begleitet. So kam es, dass ich – trotz Höhenangst – mit einem Gummiseil um den Knöchel von einer 100 Meter hohen Brücke sprang (und mir danach schwor, es nie wieder zu tun), trotz meiner angeborenen Schüchternheit eine TEDx-Rede vor 200 Menschen hielt oder mehrmals als Sängerin auf einer Bühne stand.

Immer war da dieses Kribbeln im Bauch und weiche Knie. Immer auch ein Teufelchen, das mir zuflüsterte: Tu‘s einfach! Und jedes Mal danach das Gefühl der Erleichterung und des Stolzes. Nach jeder gemeisterten Herausforderung fühlte ich mich ein wenig stärker, mit jedem Schritt aus meiner Komfortzone wuchs meine Selbstsicherheit. Denn ich habe gelernt: Was ich mir vornehme, kann ich auch schaffen.

Die Freiheit in mir

Vor nicht langer Zeit saß ich in einem Musiklokal und wartete auf eine Freundin. Ich schaute mich um und beobachtete die Menschen um mich herum. Sie hatten etwas an sich, das mir in diesem Moment sehr erstrebenswert erschien, sie wirkten selbstbewusst, lässig, kreativ. Ein schleichendes Gefühl, nicht dazu zu gehören, breitete sich in mir aus. In mein Notizbuch schrieb ich an jenem Abend: Warum habe ich so oft das Gefühl, fehl am Platz zu sein, nicht ins Bild zu passen?

Dieses Empfinden, anders zu sein und mich unter Menschen einsam zu fühlen, begleitet mich seit meiner Kindheit . Es begann in der Klosterschule und setzte sich fort im Musikgymnasium, wo ich mich unter all den musikalischen Genies fehl am Platz fühlte. Ich begann ein Studium, das ich nach kurzer Zeit abbrach und probierte es mit einer anderen Ausbildung – Fehlanzeige. Immer wieder der Gedanke: Ich gehöre nicht hierhin. Gleichzeitig tat ich alles, um draußen zu bleiben, war unnahbar und nahm wenig Rücksicht auf andere. Meine ältere Schwester erzählte mir eine Anekdote, die, wie sie meinte, typisch für mich gewesen sei: Wir waren bei Freunden eingeladen und die Gastgeberin hatte eine bestimmte Sitzordnung vorgesehen. Ich war die einzige, die sich woanders hin setzte. Solche Dinge bemerkte ich früher nicht einmal, ich spürte nur, dass ich mich nicht anpassen wollte, wenn es nicht für mich passte. Zwar nehme ich heute mehr Rücksicht auf andere, wehre mich aber nach wie vor gegen Gruppenzwang. Wenn irgendwo eine Menschenschlange angestellt ist, schaue ich mich nach einer anderen Möglichkeit um – die es oft auch gibt, wie etwa eine weitere geöffnete Kassa. Wenn ich von etwas überzeugt bin, stehe ich zu meiner Meinung, selbst wenn ich mich damit unbeliebt mache.

Diese Unangepasstheit hat ihren Preis und sie hat mich oft einsam gemacht. Irgendwann merkte ich jedoch: Wenn ich mit mir selbst im Reinen bin und dazu stehen kann, wer ich bin, ist es nicht mehr so wichtig, was andere über mich denken oder ob ich zu einer bestimmten Gruppe gehöre. Dann fühle ich mich wohl in meiner Haut und kann auch alleine sein, ohne mich einsam zu fühlen. Ein Zitat der afroamerikanischen Autorin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou beschreibt das sehr schön: „Man ist erst dann frei, wenn man erkennt, dass man nirgendwo hingehört. Man gehört überall hin – und nirgends. Der Preis ist hoch. Die Belohnung auch.“ Ich verstand: Das Einzige das zählt, ist zu mir selbst zu gehören, in meinem Sein authentisch zu bleiben.

Das Schöne daran: Ich muss keine eigenbrötlerische Egomanin sein, um mich mit mir wohl zu fühlen, sondern kann empathisch bleiben und die Gesellschaft anderer genießen. Am stärksten verspüre ich diese Verbundenheit in meiner Familie und mit guten Freunden – mit Menschen, die mich nehmen können, wie ich bin. Oder beim Netzwerken mit Gleichgesinnten, die sich für die selben Werte einsetzen. Immer öfter spüre ich aber auch eine tiefe Verbindung zu Menschen, die auf den ersten Blick ganz anders zu sein scheinen als ich oder die vom Leben benachteiligt sind. Die Soziologin und Autorin Brené Brown schreibt zu diesem Gefühl der Verbundenheit: „Spiritualität bedeutet anzuerkennen und zu feiern, dass wir alle durch eine Macht, die größer ist als wir selbst, untrennbar miteinander verbunden sind und dass sich unsere Verbindung zu dieser Macht und zueinander auf Liebe und Mitgefühl gründet.“ Alleine und doch verbunden – was für ein schöner Gedanke!

Brené Browns Buch „Entdecke deine innere Stärke“ hat mich zu diesem Artikel inspiriert, das Zitat von Maya Angelou stammt ebenfalls daraus.

50 – na und?

Es war vor ungefähr einem Jahr, als mir ein flüchtiger Bekannter auf den Kopf zusagte, dass ich unzufrieden wirke. „Wenn du nicht aufpasst, gehörst du bald zu diesen verbissenen älteren Frauen mit hängenden Mundwinkeln.“ Zack, das saß. Mein erster Impuls war, hysterisch zu lachen. Der zweite, aufzuspringen und zu gehen. Doch ich blieb sitzen, stumm, und dachte: Er hat recht.

Das vergangene Jahr wird in meine persönlichen Annalen als jenes eingehen, in dem ich in die Krise schlitterte. Midlife-Crisis, Wechseljahre, was auch immer. Ich steuerte auf meinen 50. Geburtstag zu und stellte alles in Frage: Meine Arbeit, meine Beziehung, meine Qualitäten als Ehefrau und Mutter – alles, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut hatte. Dazu kamen gesundheitliche Probleme und finanzielle Sorgen. Mehr als einmal hätte ich am liebsten alles liegen und stehen gelassen, um einfach abzuhauen. 50 mag nur eine Zahl sein, aber diese Zahl ließ und lässt mich nicht kalt, auch ein halbes Jahr nach meinem Geburtstag fällt es mir schwer, sie auszusprechen. Dass ich ständig für jünger gehalten werde, macht die Sache auch nicht einfacher – es verwirrt mich eher noch mehr. Unbekannten, denen ich erzähle, dass ich einen 20 jährigen Sohn habe, steht die Verwirrung oft ins Gesicht geschrieben. Ich entwickle jüngeren Frauen gegenüber zunehmend mütterliche Gefühle, möchte sie unter meine Fittiche nehmen – und fühle mich unter jungen Menschen zuweilen fehl am Platz.

Ich beschloss also, meinen 50. Geburtstag mit Freunden und Familie zu feiern und es ordentlich krachen zu lassen. Ich erfüllte mir einen jahrelangen Traum und sang einen meiner Lieblingssongs vor allen Anwesenden. Zwar zitterten mir die Knie, aber ich fühlte mich lebendig wie lange nicht. Ich sang, tanzte und lachte mit meinen Freunden und meiner Familie – und einige Tage später brach ich zu einer dreiwöchigen Reise in die USA auf. Auch das war ein lange gehegter Wunsch von mir, ein Geschenk, das ich mir zu meinem runden Geburtstag selbst machte, mit der Unterstützung vieler lieber Menschen. Diese Reise war buchstäblich meine Rettung: Als ich zurück kam, hatte ich meine Balance wieder gefunden. Seither geht es aufwärts. Ich spüre es zwar immer noch, das hormonelle Auf und Ab, und es könnte durchaus sein, dass es noch eine Weile so weitergeht. Aber da ist auch eine neue Gelassenheit, die ich immer öfters empfinde. Eine satte Zufriedenheit mit dem, was gerade ist – dann fühle ich mich so sehr im Hier und Jetzt verankert, wie ich es früher nicht kannte.

Was die hängenden Mundwinkel betrifft: Ich habe beschlossen, wieder mehr zu lachen. Viel zu oft habe ich in der Vergangenheit nur verkrampft gegrinst oder verschämt gelächelt, um meine Zähne nicht zu zeigen – die sind nämlich schief. Ich übe mich also darin, Menschen anzulachen – und bis jetzt hat keiner mit dem Finger auf mich gezeigt oder sich über mich lustig gemacht. Auch meinen Mann lache ich jetzt wieder öfters an, statt Machtkämpfe mit ihm auszutragen, und das tut uns beiden gut. Ich bin eine Frau mittleren Alters, die hin und wieder mit ihren Hormonteufelchen kämpft und habe schiefe Zähne. Ich bin 50 und nicht perfekt – na und?

Vom Lieben und Loslassen

Muddi, Frau Mutter, Mami, alte Frau: das sind die Namen, die mir meine überaus einfallsreiche Tochter zur Zeit gibt. Ich versuche, ihre Stimmungen, die zwischen übermütig, distanziert, peinlich berührt und genervt schwanken, mit Humor zu nehmen und mich in Gelassenheit zu üben.

Wieder einmal ist Loslassen angesagt, diese schwierigste aller elterlichen Aufgaben. Es ist ein ständiger Balanceakt: Meine Tochter in ihrer Eigenständigkeit zu bestärken und ihr gleichzeitig zu vermitteln, dass ich immer für sie da bin, auch in ihren unzugänglichsten Zeiten. Zugleich ist dieses Mädchen mein größtes Vorbild: ihre Bereitschaft, sich für Dinge einzusetzen, die ihr wichtig sind, der unbedingte Wille, Schauspielerin zu werden. Ihr sonniges Gemüt und eine überschäumende Lebenslust. In den pubertären Höhen und Tiefen ist ihr großer Bruder Ruhepol und Anlaufstelle für alle wichtigen Fragen des Lebens. Wie diese zwei so unterschiedlichen jungen Menschen – der coole 18 jährige und die quirlige 12 jährige – in Zuneigung einander verbunden sind und ihre Späße miteinander treiben (mit Unflätigkeiten, die ich hier lieber nicht wiedergebe), wärmt mir das Herz.

Mein fast erwachsener Sohn, von dessen Vater ich getrennt lebe, beginnt nun, sich mit der Trennung seiner Eltern auseinander zu setzen – und ich habe mir vor langer Zeit geschworen, für alle Fragen und Vorwürfe offen zu sein, die da kommen mögen. Die Gespräche, die wir führen, sind bereichernd, bisweilen schmerzhaft – und immer auf Augenhöhe. Zu sehen, wie erwachsen und reif er geworden ist, selbstreflektiert und empathisch, zeigt mir, dass sein Vater und ich trotz Trennung nicht alles falsch gemacht haben können. Auch wenn mir manchmal schmerzhaft bewusst ist, dass meine Tochter, die mit beiden Eltern aufgewachsen ist, ihr Selbstbewusstsein mit einer Selbstverständlichkeit vor sich her trägt, die mein Sohn sich hart arbeiten musste.

Meine Kinder haben die Gabe, Emotionen aus mir heraus zu locken, die ich lieber verdrängen würde: Hilflosigkeit, Eifersucht, Wut, Trauer. Sie bringen mich zum Lachen und zum Weinen, berühren mich ganz und gar. Und sie erinnern mich immer wieder daran, dass Lieben gleichbedeutend ist mit Loslassen. Ich habe die Wahl, mich zu entscheiden, wie ich auf eine Situation reagiere, etwa wenn mein Sohn lieber mit seiner anderen Familie feiert als mit uns ein Wochenende zu verbringen. Bin ich beleidigt und mache ihm ein schlechtes Gewissen oder bestärke ich ihn in seiner Unabhängigkeit? Meist spüre ich es ganz deutlich: sobald ich die Situation akzeptiere, geht es nicht nur mir selbst, sondern auch dem anderen besser. Sobald wir manipulieren statt aufrichtige Liebe zu schenken,  handeln wir egoistisch. Dann geht es scheinbar um das Wohl des Kindes, doch in Wahrheit übertragen wir die eigene Unsicherheit, die eigenen Befindlichkeiten auf den Nachwuchs. Ich habe viele Male Eltern erlebt, die ihre Ängste den Kindern überstülpten – und anwesenden Eltern und Kindern gleich dazu. Die Herausforderung besteht darin, Kinder in ihrer Eigenheit anzunehmen, selbst wenn sie gänzlich anders geraten sind als Mutter oder Vater. Das Schöne daran: wir können durch sie so viel über uns selbst lernen! Können darauf vertrauen, dass unsere Kinder ihren eigenen Weg finden werden – und immer wieder aufs Neue loslassen. Oder um es mit den Worten meiner Tochter zu sagen: „Chill‘ dein Leben.“

 

Geht da noch was?

Je näher mein 50. Geburtstag rückt, desto seltsamere Verhaltensweisen lege ich an den Tag. Ich tue Dinge wie vor 30 Jahren: Mir denselben Film mehrmals im Kino anzusehen oder in verrauchten Lokalen zu verkehren.

Manchmal fühle ich mich wie Faust (Zwei Seelen wohnen, ach!, in meiner Brust): Wenn ich wieder einmal alles liegen und stehen lassen möchte, um in ein Land (irgendeines!) auszuwandern, in dem immerfort die Sonne scheint – und im nächsten Moment bis über beide Ohren in meine Heimatstadt verliebt bin. Oder wenn ich die kleinen Rituale meines Alltags genieße und gleich darauf glaube, vor Langeweile sterben zu müssen. Neulich ertappte ich mich in einem jener Raucherlokale dabei, wie ich die Frau hinter der Bar beobachtete und mir für einen kurzen, aber denkwürdigen Moment ihren Job wünschte.

Und immer wieder der Gedanke: War’s das jetzt? Dann stelle ich alles in Frage: mein – zugegebenermaßen nicht schlechtes – Leben in einer der schönsten Städte der Welt, mit Mann, Kindern und einem Job, von dem ich immer geträumt habe. Geht da noch was? Ich träume von Aufbruch, von Reisen (das allerdings, seit ich denken kann), vom Leben in der Natur und Abenteuern ohne Ende. Meine Familie holt mich mit schöner Regelmäßigkeit auf den Boden der Realität zurück. Wenn meine Tochter mir mit ihren pubertären Verrücktheiten mein eigenes Verhalten widerspiegelt oder mein Sohn mir einen Vortrag darüber hält, wie wichtig es sei, sich für Wünsche und Ziele einzusetzen.

Ich brauche diese kleinen Abenteuer wie die Luft zum Atmen

Und dann merke ich wieder, wie einfach es sein kann, frischen Wind in den Alltag zu bringen – ohne ans andere Ende der Welt reisen zu müssen. So wie neulich, als ich beim Laufen auf meiner Lieblingsstrecke eine spontane Idee hatte. Ich kletterte einen steilen Waldhang hinauf, um von ganz oben einen Blick auf das Tal zu werfen. Während ich hinauf klettere, immer darauf bedacht, auf dem weichen und rutschigen Untergrund Halt zu finden, fühle ich mich wie bei einer Expedition auf den Kilimandscharo. Ich zwinge mich dazu, nicht zu oft hinunter zu sehen, weil ich sonst dank meiner nicht unbeträchtlichen Höhenangst weiche Knie bekäme. Und als ich den höchsten Punkt erreicht habe, mich von der Sonne wärmen lasse und meinen Blick über den Fluss hinüber zu den Bergen schweifen lasse, ist da ein Gefühl von Stolz. Gefolgt von der bangen Frage: Werde ich wieder hinunter kommen? Auf dem Weg nachhause zittern meine Knie zwar von der ungewohnten Anstrengung, aber mir wird klar: diese kleinen Abenteuer, das Ausbrechen aus der alltäglichen Routine, ist es, was ich brauche wie die Luft zum Atmen.

Ich bin überzeugt davon: Älterwerden bedeutet nicht das Ende aller Träume. „Die Lebensmitte ist die Zeit der Bilanzierung, und damit auch die Chance zum Neustart“, sagt die Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello. Gut so. Denn ich werde nie aufhören, das Beste aus meinem Leben zu machen. Ich möchte einen Roman schreiben, all die Länder besuchen, die noch auf meiner Liste stehen – und vielleicht sogar meinen Traum vom Leben am Meer umsetzen. Das Geschenk, das ich mir selbst zu meinem 50er machen werde, steht jedenfalls fest: es soll eine längere Reise werden, über die ich auch schreiben werde. Ich halte euch auf dem Laufenden.

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