Ich war 30, als ich zum ersten Mal Mutter wurde, und von einem Tag auf den anderen stand mein Leben auf dem Kopf. Bis dahin war ich ziellos durchs Leben getrieben, wechselte Jobs ebenso häufig wie die Männer. Ich hatte nie gelernt, mich selbst wert zu schätzen oder Verantwortung zu übernehmen.
Und nun war da ein kleiner Mensch, der auf meine Liebe angewiesen war. All die klugen Bücher, die ich gelesen hatte, konnten mich nicht darauf vorbereiten, was mich als Mutter erwarten würde: Die durchwachten Nächte, der Schlafmangel, die dünnen Nerven. Wer hatte das Märchen von den Muttergefühlen erfunden, die sich automatisch nach der Geburt einstellen? Ich war hin- und hergerissen zwischen der Zuneigung zu diesem kleinen Menschen und der Überforderung, die zum täglichen Begleiter wurde. Mein innerer Freigeist rebellierte dagegen, rund um die Uhr für jemanden verantwortlich zu sein. Also begann ich mich schuldig zu fühlen. Stimmte etwas nicht mit mir? War ich anders als andere Mütter? Sollte ich mein Kind nicht verdammt nochmal lieben, egal wie erschöpft ich war?
Irgendwann kam der Tag, da ich mich über nichts mehr freuen konnte. Am Morgen sehnte ich bereits den Abend herbei und konnte es kaum erwarten, ein wenig Zeit für mich zu haben. Die Tage dehnten sich ins Endlose. Die vorwurfsvollen Blicke von Menschen, die mir meine Überforderung ansahen, machten es nur noch schlimmer. Ich fühlte mich als Versagerin, wertlos. Dazu kam die schwierige Beziehung zum Vater meines Kindes, dem ich nichts recht machen konnte – so erschien es mir zumindest.
Die Mutterrolle warf mich auf mich selbst zurück und zeigte mir meine Schwächen mit aller Deutlichkeit auf. Sie führte aber auch dazu, dass ich endlich begann, mich mit meinem bisherigen Leben auseinander zu setzen. Ich wollte mehr für mein Kind sein als eine überforderte Mutter. Dazu musste ich beginnen, mich von meiner eigenen Mutter zu lösen und meine Vergangenheit aufzuarbeiten. Ich begann eine Therapie und es war ein langer, schwieriger Prozess, der letztendlich zur Trennung vom Vater meines Sohnes führte.
Es gab diesen Moment, als Leon nach mehreren Tagen bei seinem Vater zu mir kommen sollte, und sich verzweifelt an das Bein seines Papas klammerte. Es gab Momente, in denen ich, des Kämpfens müde, den Drang verspürte, mich beleidigt zurück zu ziehen. Ich musste an die Worte meines Vaters denken, der uns nach der Scheidung verlassen hatte: „Ihr hattet einen Stiefvater, also habt ihr mich nicht mehr gebraucht.“ Meinem Vater war nicht bewusst, wie sehr ich mich als Kind nach ihm sehnte – woher sollte er es auch wissen? Und dann gab ich mir wieder einen Ruck und tat alles dafür, meinen Sohn regelmäßig zu sehen, für ihn da sein zu dürfen.
Heute ist aus dem ängstlichen Kind von damals ein reflektierter und empathischer junger Mann geworden, der früh damit begann, sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen. Als er 16 war, schrieb er mir und seinem Vater einen Brief, in dem er uns bat, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Er entschloss sich, wie sein Vater, zu einer Ausbildung zum Psychotherapeuten. Wenn wir uns heute sehen, führen wir tiefgründige Gespräche auf Augenhöhe und er bringt mich gemeinsam mit seiner Schwester zum Lachen. Er macht sich viele Gedanken darüber, wie er die Welt zu einem besseren Ort machen könnte.
Manchmal wünschte ich, ich könnte meinem Sohn das Päckchen, das er seit seiner Kindheit mit sich herumträgt, abnehmen. Dann fühle ich mich schuldig für all meine Unzulänglichkeiten – und weiß doch, dass ich mein Bestes gegeben habe, so wie alle Eltern es tun. Wenn ich mir diesen schlaksigen und empathischen jungen Mann heute ansehe, wird mir warm ums Herz. Dann möchte ich ihn umsorgen, ihn behüten, ihm alle Steine aus dem Weg räumen. Und doch weiß ich, dass er seinen Weg alleine gehen muss – in der Gewissheit, dass ich immer für ihn da bin.