Ich habe lange nicht verstanden, woher der Jugend- und Schönheitswahn in unserer Gesellschaft kommt. Warum es gerade für Frauen so schwer zu sein scheint, zu ihren Rundungen und Falten zu stehen. Ich hörte dann mitunter, dass ich es leicht hätte, da ich von Natur aus schlank bin und immer essen konnte, was ich wollte. Und dann werde ich meist auch noch um Jahre jünger geschätzt. Wie ungerecht.
Heute weiß ich: es ist ein Mittel unserer patriarchalischen Gesellschaft, Frauen klein zu halten. Attraktiv, dünn, am besten auch noch zurückhaltend und bescheiden – das wurde jahrzehntelang als Idealbild der Frau gesehen. Ich habe dieses Spiel lange mitgespielt, mein Selbstbewusstsein in erster Linie aus meinem Aussehen genährt. War in meinem Inneren unsicher, orientierungslos und wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Jetzt bin ich 53, und um nichts in der Welt würde ich meine Erfahrungen der letzten Jahrzehnte gegen mein jüngeres Ich tauschen.
Auf der Suche nach mir selbst habe ich mich verloren und wieder gefunden. Habe die falschen Männer an mich rangelassen und schmerzhafte Trennungen erlebt. Zwei Kinder geboren, meinen Vater viel zu früh verloren. Habe jahrzehntelang eine Ur-Wut in mir getragen, die auch heute noch manchmal rauswill. Die Wut des kleinen Mädchens, das nicht gesehen wurde, und die ich lange nicht zeigen durfte. Große Teile meins Lebens habe ich mit Kämpfen verbracht. Kämpfen darum, in meinem So-Sein wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. Das Streben um Unabhängigkeit von meiner Mutter, die Wut auf übergriffige Männer, Machtkämpfe in Beziehungen. Ich habe viele Energien mit diesen Kämpfen verschwendet, bis ich erkannte, dass sie sich erübrigen, wenn ich zu mir stehe. Dass ich stark und weich zugleich sein kann.
All diese Erfahrungen haben mich zu der Frau gemacht, die ich heute bin – und wenn ich in den Spiegel schaue, mag ich, was ich sehe. Ich mag meine Fältchen – auch wenn es noch nicht viele sind – und nehme liebevoll zur Kenntnis, wie mein Körper sich im Laufe der Jahre verändert hat. Am meisten aber feiere ich die zunehmende Gelassenheit, die mit dem Älterwerden einhergeht. Dass ich gelernt habe, mich nicht nur auf meinen Verstand zu verlassen, sondern auch auf meine innere Stimme zu hören. Immer mehr bei mir anzukommen, zu meiner Meinung und meinen Unzulänglichkeiten zu stehen.
Ich glaube ja, dass es immer noch Männer gibt, die Angst vor starken Frauen haben, vor allem jene, die vom Patriarchat profitieren. Diese Ewiggestrigen können sich warm anziehen, denn nun ist die Zeit gekommen, da immer mehr Frauen in ihre Kraft kommen – ob jung oder alt.
P.S. Während ich diesen Text schreibe, steckt meine Tochter den Kopf zur Tür herein, um mir ein Lied vorzuspielen:
„I am woman, I am fearless
I am sexy, I am divine
I am unbeatable, I am creative
honey you can get in line
I am feminine, I am masculine
I am anything I want“
(„I am woman“, Emmy Meli)