Wir schreiben das Jahr 1939, der zweite Weltkrieg hat gerade begonnen. In einem Wiener Krankenhaus bringt eine junge Frau ihr erstes Kind zur Welt, einen Sohn.
Es ist eine schwere Geburt mit Komplikationen und die Mutter stirbt wenige Tage danach. Der Vater, außer sich vor Schmerz über den Tod seiner Frau, lässt den Sohn im Krankenhaus zurück. Das Kind wird in einem staatlichen Kinderheim untergebracht, bis es nach einem Gerichtsbeschluss von seiner Großmutter aufgenommen wird. „Ich bin schuld am Tod meiner Mutter“ – dieser Satz brennt sich dem Jungen unauslöschlich ein, und seine Umgebung tut alles, ihn diese Schuld nicht vergessen zu lassen. Der Junge ist mein Vater.
Auch wenn ihn die Großmutter täglich wissen lässt, dass sie ihm den Tod ihrer Tochter nie verzeihen wird, entwickelt das Kind sich zu einem aufgeweckten Jungen, der es versteht, sich von seiner Oma die Aufmerksamkeit zu holen, die er braucht. So ist es auch an einem Tag gegen Ende des Krieges, als die Sirenen einen nahenden Luftangriff auf Wien ankündigen. Der kleine Junge ist gerade mit seiner Oma zu Besuch bei einer Freundin im Nebenhaus, als die Sirenen aufheulen. Er drängt die Oma, zurück in den Keller ihres Wohnhauses zu flüchten, doch dafür bleibt keine Zeit. Alle drei eilen in den Keller der Freundin hinunter, wo sie sich mit den anderen Hausbewohnern zusammen kauern und abwarten. Und dann zerrreißt eine ohrenbetäubende Explosion die Luft. Das Haus bebt und die Menschen im Keller befürchten das Schlimmste. Doch nichts passiert. Als nach der Entwarnung Ruhe einkehrt und sie sich hinaus wagen, sehen der kleine Junge und seine Oma das Nebenhaus – ihr Haus – in Schutt und Asche liegen. Alles ist verloren, der beste Freund tot. Und wieder senkt sich die Last der Schuld auf die Schultern des Jungen. Der Freund ist tot, er selbst aber darf leben? Die Großmutter, die nun kein Zuhause mehr hat, findet gemeinsam mit dem Jungen Zuflucht bei ihrer zweiten Tochter, der Tante des Kindes. Die nimmt ihren Neffen wie ihr eigenes Kind auf und bietet ihm fortan ein Zuhause.
Die Bürde der Schuld wird den jungen Mann ein Leben lang begleiten. In seinen dunkelsten Stunden wird er sich mit Alkohol betäuben, um zu vergessen. Er heiratet, wird Vater, doch die Dämonen holen ihn immer wieder ein. Er bleibt Zeit seines Lebens ein Einzelgänger, unfähig, sich selbst oder jemand anderen zu lieben. Die Mutter seiner Kinder verlässt ihn und er findet eine andere Frau, die bereit ist, sich für ihn aufzuopfern, die ihm helfen möchte. Doch es gelingt nicht, er kann auch diese Beziehung nicht aufrecht erhalten. Seinen nun erwachsenen Kindern entfremdet, überlässt er sich immer mehr dem Alkohol. Einzig seine jüngste Tochter sucht die Nähe des Vaters und fordert ihn dazu auf, sich mit ihr auseinander zu setzen. Eine Vater-Tochter-Beziehung entwickelt sich, die auf wackeligen Beinen steht, jedoch das Leben zweier verwandter Seelen bereichtert. In vielen Gesprächen erfährt die Tochter von der Kindheitsgeschichte ihres Vaters und beginnt, ihn besser zu verstehen. Diese Tochter bin ich.
Warum ich euch das erzähle? Weil ich glaube, dass die meisten von uns eine Last mit sich herumtragen, unverarbeitete Erlebnisse aus der Kindheit, die uns ein Leben lang begleiten. Die Geschichte meines Vaters ist eine Erinnerung für mich, immer wachsam zu bleiben und nicht leichtfertig über Menschen zu urteilen. Auch ich kenne das Empfinden von Schuld und weiß von dem Trost, den Alkohol spenden kann. Ich ließ Männer in mein Leben, die meinem Vater nur allzu ähnlich waren – mit allen negativen Begleiterscheinungen. Die Geschichte meines Vaters hat mich auch dazu inspiriert, meinen eigenen Dämonen auf den Grund zu gehen – und ich begriff, dass man sich manchmal Hilfe suchen muss, um Heilung zu finden.
Wenige Monate nach dem letzten Besuch bei meinem Vater bekam ich einen Anruf, der mir die Nachricht von seinem Tod überbrachte. Kurz davor hatte er mir auf meinen Anrufbeantworter gesprochen – ich rief ihn nicht gleich zurück. Er wurde nur 60 Jahre alt.