Heimkommen

Nun bin ich am Meer und es fühlt sich an wie heimkommen, wie eigentlich überall in diesem Land. Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch hier mit meiner Familie, wie ich stundenlang auf unserer Terrasse saß und auf diese Bucht hinausblickte. Wie schwer es mir fiel, nach unserem Urlaub Abschied zu nehmen. Und nun bin ich alleine hier und die anfängliche Wehmut weicht schnell der Erkenntnis, dass es sich richtig anfühlt.

Heimkommen.. dieses Wort löst etwas in mir aus. Gibt es nur den einen Ort, der Heimat bedeutet oder können es mehrere sein? Oder ist es eher ein Gefühl? Home is where my heart is..

Als ich nach Jahren der Unbeständigkeit und Suche eine Familie gründete, dachte ich lange Zeit, dass dies ein Dauerzustand sein könne – ich fühlte mich angekommen. Meine Kinder, unsere schöne Wohnung, ich glaubte, es nach der Zeit der Rastlosigkeit „geschafft“ zu haben und endlich zur Ruhe zu kommen. Bis ich begriff, dass ich nichts mehr liebe, als unterwegs zu sein und Ruhe womöglich gar nicht das ist, was ich brauche. Zwar betrachtete ich lange Zeit die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, als mein Zuhause, zu dem ich nach meinen Reisen immer wieder gerne zurückkehrte. Doch dann zog es mich immer mehr raus aus der Stadt in die Natur.

Werde ich jemals an einem Ort „ankommen“, um dort zu bleiben? Oder reicht es tatsächlich aus, in mir selbst Heimat zu finden, wie ich hier vor einiger Zeit geschrieben habe?

Natürlich gibt es da nach wie vor meine Kinder, die zwar groß geworden sind, aber dennoch immer meine Kinder sein werden. Dass mein erwachsener Sohn mich in der Ferne anruft, um meinen Rat in einer Sache einzuholen und ich regelmäßig mit meiner Tochter telefoniere, bedeutet mir unglaublich viel. Mit beiden habe ich oft darüber gesprochen, wie wichtig mir ein gewisser Freiraum ist, dennoch war immer klar, dass ich für sie da bin, wenn sie mich brauchen.

Und so sitze ich hier auf meinem kleinen Balkon mit Blick auf die Bucht, die ich so sehr liebe. In dem Wissen, dass es schon übermorgen weitergeht, denn ich habe mir vorgenommen, dieses Land und seine Leute zu erkunden. Doch wer weiß, vielleicht komme ich bald wieder, alles ist möglich – und diese Freiheit ist es, die ich gerade brauche.

Dem Leben vertrauen

Nun ist es soweit: Nachdem ich alle Zelte in meiner Heimatstadt abgebrochen habe, wird sich zeigen, was die Zukunft bringt. Den Sommer verbringe ich in meinem geliebten Salzkammergut und ab Herbst geht es auf Wanderschaft. Ich habe ein paar Ideen und Kontakte, aber wenige fixe Pläne.

Viele Reaktionen auf mein Vorhaben zeigen mir die vorherrschende Unsicherheit: Machen das nicht nur junge Leute? Oder auch: Bist du dafür nicht zu alt? Was ist mit deinen Kindern, Freunden, Eltern? Wie geht sich das finanziell aus? Aus manchen Fragen, in denen ein versteckter Vorwurf mitschwingt, höre ich heraus: Ängste und Unzufriedenheit, ein nicht gelebtes Leben.

Meine Antworten lauten: Ich bin kein Sicherheitsmensch, habe kein Bedürfnis, mich gegen alles mögliche abzusichern, wie es in unserer Gesellschaft üblich ist. Ich habe nie großen Wert auf einen fixen Job mit sicherem Einkommen gelegt. Und dennoch ist sich in meinem Leben immer alles ausgegangen.

Ich habe mir eine berufliche Basis geschaffen, die es mir erlaubt, überall zu arbeiten und mir meine Zeit frei einzuteilen. Ich habe vor, ein Buch über meine Erfahrungen zu schreiben und damit meine zwei größten Leidenschaften zu verbinden: Reisen und Schreiben.

Ich werde Alternativen zu unserem Geldsystem ausprobieren: Wohnen gegen Mithilfe, Wwoofen, schauen, was sich ergibt.

Ich habe gelernt, meiner inneren Stimme zu vertrauen. Ich denke nicht darüber nach, was vielleicht in ein paar Monaten sein wird, sondern konzentriere mich auf den jetzigen Moment.

Meine Gegenfragen lauten: Die Zeiten sind unsicherer denn je, was habe ich zu verlieren? Wir können nicht weitermachen wie bisher, also warum nicht etwas Neues wagen, vielleicht gemeinsam mit Gleichgesinnten?

Das Schöne ist: seit ich diese Idee geboren habe, tauchen Menschen und Projekte auf, bekomme ich Angebote, die etwas in mir zum Schwingen bringen. Mein Ziel ist es, Menschen und Orte zu finden, die meine Seele berühren. Vielleicht den Ort zu finden, an dem ich mich niederlassen möchte. Und dem Leben zu vertrauen.

Abschied und Neubeginn

Seit einigen Monaten fühlt sich mein Leben wie ein einziger Abschied an: von meinem Leben mit Mann, Kind und Katze, von den Erwartungen an meine Beziehung, die sich nicht erfüllten. Von Lebensumständen, die sich am Ende nicht mehr richtig anfühlten. Und nun musste ich auch noch einem engen Familienmitglied Lebewohl sagen.

In manchen Bereichen war der Abschied endgültig, in manchen vollzieht er sich schrittweise. Meine Tochter wird nun erwachsen und muss sich von ihrer Mutter lösen. Und auch wenn es noch so sehr schmerzt, ist einmal mehr Loslassen gefragt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, sich vom mütterlichen Einfluss abzugrenzen und möchte ihr diesen Schritt leichter machen als er für mich war.

Ich verabschiede mich nun von meinem Leben in der Stadt, denn mit dem Herzen bin ich längst woanders. Es könnte auch ein – zumindest vorübergehender – Abschied von meinem seßhaften Leben werden. Reisen, eine Weile in einem anderen Land leben, Wohnen gegen Mithilfe – alles ist möglich, das Abenteuer ruft. Nach über zwanzig Jahren Leben mit Kindern ist nun die Zeit gekommen, loszuziehen – etwas, wovon ich mein ganzes Leben geträumt habe. Letztendlich ist es auch der Abschied von einem System, in dem ich mich schon lange nicht mehr wohlfühle.

Wenn mir das Herz schwer wird, denke ich daran, dass jeder Abschied auch ein Neubeginn ist. Wie Hermann Hesse in einem meiner Lieblingsgedichte schreibt:

„Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Reisen, um zu schreiben

Reisen begleiten mich seit meiner Kindheit. Die Sehnsucht danach, unterwegs zu sein und in andere Kulturen einzutauchen, gehört zu mir ebenso wie der Wunsch, diese Welt ein Stück besser zu machen.

Ich kann mich lebhaft daran erinnern, als ich mit meinen Eltern meine erste große Reise antrat: Ich war elf, wir brachen spätabends auf, um die Nacht durchzufahren, den Kofferraum randvoll bepackt. Im Gepäck hatte ich meine Bücher, unverzichtbar in allen Lebenslagen. Neben mir am Rücksitz schlichteten sich Onkel und Tante in unseren kleinen Wagen, um ihre Hochzeitsreise mit uns zu verbringen. Und dann ging es los: Wir fuhren die Nacht durch bis zur französischen Grenze und dann noch einmal dieselbe Strecke bis nach Nordfrankreich. Die Details sind verschwommen – Picknicks am Straßenrand, Nächte in billigen Hotelzimmern und die großartigen Landschaften der Bretagne und Normandie. Diese Sprache! Das Meer! Die zerklüfteten Klippen! Ich saugte alles in mir auf und es war der Beginn einer großen Liebe.

Bald begann ich über meine Reisen zu schreiben, füllte Tagebücher mit meinen Erlebnissen. Meine zwei großen Leidenschaften zu verbinden, war für mich das größte Glück – und es war perfekt, als meine ersten Reiseberichte veröffentlicht wurden. Schon bald gesellte sich ein dritter Wunsch dazu: Über sinnstiftende und mutmachende Projekte und Entwicklungen in anderen Ländern zu berichten. Ich besuchte mit Fairtrade Kaffeefarmer in Honduras, nahm an der Klimakonferenz in Marrakesch teil, verbrachte mit Greenpeace einige Tage im rumänischen Urwald oder schrieb über den Umweltplan der Stadt New York.

Erlebnisse wie diese bereichern mein Leben, daraus schöpfe ich Kraft.

vor über 25 Jahren in Quito, Ecuador – damals noch mit wallendem Haar 🙂

In den vergangenen zwei Jahren war ich aus bekannten Gründen kaum unterwegs und merke nun, wie die Reiselust sich wieder meldet – wie immer gepaart mit dem Wunsch, zu inspirieren und Mut zu machen. Nun steht Costa Rica auf dem Plan, das Land, das so vieles anders macht, von der Abschaffung des Militärs bis zu einer Vorreiterrolle beim Umwelt- und Klimaschutz. Ich möchte mir ansehen, woher dieses Denken über den Tellerrand kommt und mit Verantwortlichen sprechen.

Leben und leben lassen

Alle, die mich kennen, wissen, dass ich für mein Leben gerne unterwegs bin, und dass ich hin und wieder alleine losziehe, um den Kopf frei zu kriegen. In den letzten Wochen war es wieder soweit: der Wunsch nach einem Tapetenwechsel wurde stärker. Also habe ich mich in einen Bus gesetzt, bin die Nacht durch gefahren und in Sarajevo angekommen, wo ich in der Wohnung einer Freundin bleiben konnte.

Bereits vor acht Jahren war ich mit meiner Familie in Bosnien und habe mich Hals über Kopf in dieses Land verliebt. Es war das Wissen um einen schrecklichen Krieg, dessen Folgen bis heute sichtbar sind, eine Mischung aus schwer greifbarer Melancholie, freundlichen Menschen und grandiosen Landschaften. Und dann kamen wir nach Mostar und es war endgültig um mich geschehen. Wir verbrachten nur zwei Stunden dort, und in dieser kurzen Zeit brannte eine Sehnsucht in meinem Herzen, die ich nur schwer einordnen konnte. Seit damals wollte ich noch einmal zurück, wollte herausfinden, was es ist, das mich an diesem Ort so sehr berührt hat.

Also stehe ich um halb sechs Uhr auf, um den Zug von Sarajevo nach Mostar zu erwischen. Komme im letzten Moment am Bahnhof an, wo es keine Anzeigentafeln und keinen Hinweis darauf gibt, zu welchem Bahnsteig ich muss. Renne Stiegen hinauf, sehe einen Zug am Gleis nebenan stehen, renne wieder hinunter. Eine Frau kommt an mir vorbei, ich keuche „The train to Mostar?“. Sie antwortet „You don‘t have to hurry, it‘s still three minutes“. Sie geht seelenruhgie die Stufen hinauf und spricht mit dem Schaffner, weil ich keine Zeit mehr hatte, ein Ticket zu kaufen. Der setzt eine strenge Miene auf und erklärt mir, dass ich drei Bosnische Mark extra zahlen muss. Wir fahren los, die Landschaft außerhalb Sarajevos versinkt im Nebel. Doch bald kämpft sich die Sonne durch und wir werden von grünen Hügeln begleitet, unterbrochen von zu vielen Tunnels, die mir die Sicht nehmen.

In einem der Tunnels dann ein lautes Krachen, als ob etwas auf den Zug gefallen wäre. Der Zug kommt kurz nach dem Tunnel zu stehen und dann geschieht lange nichts. Endlich taucht ein Zugbegleiter auf und erklärt, was passiert ist, ein älterer Bosnier übersetzt für mich ins Englische: ein Stein hat sich aus der Tunneldecke gelöst und hat die Elektronik der Lokomotive beschädigt. Eine neue Lokomotive wurde aus Mostar angefordert, aber es kann eine Stunde dauern, bis sie da ist.

Eine Stunde vergeht, dann noch eine. Ich unterhalte mich mit dem Bosnier, einem Universitätsprofessor, und er erzählt mir, dass er kurz vor dem Krieg mit seiner Familie in die USA ging und nach 20 Jahren zurückkehrte. Auf die erstaunten Fragen seiner Studenten, warum er nicht geblieben sei, lautete seine Antwort: „Weil es sich hier gut leben lässt.“ Die Fahrgäste bleiben ruhig, ich höre viel Gelächter und gehe in die Kaffeebar, um etwas zu trinken. Dort haben einige Leute sich versammelt und unterhalten sich angeregt. Nur manche schauen nervös in ihr Handy, doch niemand scheint sich zu beschweren. Der Zug steht mitten in einem Waldstück, einige Türen sind geöffnet und ich strecke meine Nase hinaus, um die frische Luft einzuatmen.

Nach über zwei Stunden geht die Fahrt weiter und wir erreichen Mostar nach zwei weiteren Unterbrechungen schließlich mit drei Stunden Verspätung. Ich bin sofort wieder verliebt in diese Altstadt mit dem orientalischen Charme, dem türkisgrünen Fluss, der berühmten Brücke. Ich finde das Café wieder, wo ich damals mit meinem Mann saß und auf den Fluss schaute – mit dem Gedanken im Kopf: ich will hier nicht mehr weg. Nun sitze ich wieder hier und denke an die Worte des Universitätsprofessors und an ein Gespräch mit der jungen Frau aus dem Zug: dass die Menschen am Balkan viel entspannter seien als im Rest Europas.

Und mir wird klar, dass es das ist, was die Menschen in diesem Land uns beibringen können: Leben und leben lassen.

Das Glück auf Schienen

Wenn ich an Momente in meinem Leben denke, in denen ich besonders glücklich war, tauchen sehr oft Bahnmomente auf. Bahnfahren ist für mich der Inbegriff von Freiheit: unterwegs sein und gleichzeitig entspannen, schlafen oder aus dem Fenster schauen – oder auch arbeiten. Zwischendurch ins Bordrestaurant wechseln, um dort einen Kaffee zu trinken oder etwas zu essen. Dabei die wechselnden Landschaften vor dem Fenster bewundern. Das Reisen war immer schon meine große Leidenschaft, doch beim Bahnfahren habe ich die schönsten Momente erlebt:

Die Fahrt von New York mit dem Zug Richtung Süden, 22 Stunden lang, um meine ehemalige Gastfamilie in Birmingham, Alabama zu besuchen. Und dann noch einmal sechs Stunden bis nach New Orleans. In der Abenddämmerung fährt der Zug über einen riesigen See und danach durch ein Sumpfgebiet – in der untergehenden Sonne.

Eine Fahrt von Quito nach Banos in Ecuador, die ich, wie einige andere auch, auf dem Dach des Zuges verbrachte.

Die vielen Male, die ich zu meiner Freundin nach Hamburg fuhr. Der Moment, wo der Zug die Alster überquert, bevor er in den Hauptbahnhof einfährt.

Auf plüschigen Sitzen unterwegs nach Ljubljana. Der – österreichische – Schaffner begrüßt uns mit den Worten: „Habt’s eh gut gefrühstückt? Wir fahren heute nur mit einer Lok, über den Semmering müsst’s uns anschieben helfen.“

cof

Am Abend in einen Zug einsteigen und morgens in einer fremden Stadt ankommen. Kaffee trinken am Pariser Gare de‘l Est (damals gab es den Nachtzug Wien-Paris noch), in Venedig den Nebel über den Kanälen hängen sehen.

Auf der Fahrt von Hamburg nach Kopenhagen mit dem Zug auf die Fähre fahren und sich darüber wundern, wie der lange Zug auf dieses Schiff passt.

Zahllose Fahrten ins Salzkammergut, alleine oder mit meiner Familie, entlang des Traunsees – für mich eine der schönsten Bahnstrecken überhaupt.

Hin und wieder gestaltete sich das Bahnfahren auch abenteuerlich: Als der Liegewagen im Nachtzug nach Rom völlig überheizt war (und sich die Temperatur nicht regeln ließ) oder der Moment spätabends auf einem Bahnhof in Ostindien, als der Strom ausfiel und alles in Dunkelheit getaucht wurde. Oder die 12 stündige Verspätung eines Amtrak-Zuges von Phoenix, Arizona nach Los Angeles. Mein Plan war gewesen, nachts durch die Wüste Arizonas zu fahren und danach den Anschlusszug von L.A. entlang der Pazifikküste nach San Francisco zu nehmen, und die Fahrt am Meer zu genießen. Stattdessen fuhr ich nachts mit einem Schienenersatzverkehr-Bus nach San Francisco.

Gerade jetzt träume ich oft vom Bahnfahren und halte mich mit Reiseplänen bei Laune. Das erste, was ich mir nach dieser verordneten Stubenhockerei leisten werde, ist ein Interrail-Ticket. Wohin die Reise gehen soll, daran tüftle ich noch – doch es wird wohl der Norden und Osten Europas werden.

Auf der Straße tanzen

Dieses Foto ist eine Erinnerung an meine erste Reise durch Südamerika. Es war in Ecuador, ich war Mitte 20 und auf der Suche nach Abenteuern. Die Fahrt auf dem Dach eines Zuges, der mich von Quito nach Baños brachte, war das erste Highlight dieser Reise, dem noch viele weitere folgen sollten. Ich erinnere mich, dass einer der Dachpassagiere während der Fahrt seinen Hut verlor, der Zug daraufhin nach lautem Geschrei stoppte und ein Stück rückwärts fuhr. Der Mann kletterte hinunter, klaubte seinen Hut auf und stieg wieder aufs Dach, bevor der Zug weiterfuhr.

Diese Aufnahme ist für mich der Inbegriff von Leichtigkeit und Unbeschwertheit. In letzter Zeit ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich das Bild sehnsüchtig betrachte (es ist eines von mehreren Reisefotos, die in meinem Arbeitszimmer hängen). Es erinnert mich an eine Zeit, in der ich sorglos durchs Leben steuerte und an ein Land, in dem die Menschen auf den Straßen tanzten und Musik in jedem öffentlichen Verkehrsmittel zu hören war (die übrigens nie den Fahrplan einhielten). Ein Land, das den Begriff Buen Vivir (gutes Leben) in seine Verfassung geschrieben hat.

Manchmal frage ich mich, warum es in unseren Breiten so schwierig zu sein scheint, mehr Entspanntheit in unseren Alltag zu bringen. Viele hetzen verbissen durchs Leben, alles dreht sich um materielle Werte. Manchmal sehne ich mich zurück nach jener Leichtigkeit, die mich auf meinen Reisen begleitete – und die ich am häufigsten in Ländern verspürte, die nach unseren Maßstäben arm sind. Auch heute noch fühle ich mich oft wie ein anderer Mensch, wenn ich unterwegs bin. Wie schön wäre es, diesen Zustand in mein alltägliches Leben zu transportieren und mir ein Stück Buen Vivir nachhause zu holen! Ich werde gleich morgen auf der Straße tanzen.

Der Weg ist das Ziel

Reisen bedeutet für mich vor allem: mich auf die Menschen einzulassen, einzutauchen in das Land und mich treiben zu lassen. Je länger ich unterwegs bin, desto besser gelingt mir das.

(c) Susanne Wolf

Spätestens seit New Orleans, dieser entspannten Stadt, spüre ich, wie sich alles von selbst ergibt: ich suche dringend eine Unterkunft für eine zusätzliche Nacht und bekomme ein kostenloses Zimmer in meinem Guesthouse angeboten (zwar ohne Badezimmer, aber hey, ich war immer schon eine Improvisationskünstlerin!). Ich ändere spontan meine Pläne für die Weiterreise und suche eine Unterkunft über Couchsurfing für Albuquerque, New Mexico – und lande gleich bei der ersten Anfrage einen Volltreffer. Rosalie, meine Gastgeberin, ist eine kluge und weltoffene Frau, mit der ich Gespräche über das Reisen und über Politik führe. Bei einem gemeinsamen Abendessen lerne ich ihre Freundin Jane, eine pensionierte Gynäkologin, kennen, die mich mit ihrem trockenen Humor zum Lachen bringt. Als sie über ihr Haus am anderen Ende der Stadt, nahe des Rio Grande, erzählt, denke ich: Da will ich hin. Am nächsten Tag fragt Rosalie mich, ob ich mit ihr und Jane einen kleinen Ausflug machen möchte – in Jane’s Wohngegend. Und ob ich will! Bei unserem Spaziergang überholt uns eine Gruppe junger, durchtrainierter Männer und ich zücke spontan meine Kamera. „Don’t we have nice scenery?“ fragt Jane lachend. Später schlendere ich durch die Altstadt von Albuquerque, gemeinsam mit etlichen anderen Touristen. Auf dem Gehweg kommt mir ein Mann entgegen, beim Versuch, einander auszuweichen, stoßen wir beinahe zusammen. Er breitet seine Arme aus, fragt „Do you wanna dance?“ und geht lachend an mir vorbei. Die Freundlichkeit der Amerikaner ist einer der Gründe, weshalb es mich immer wieder in dieses Land zieht.

(c) Susanne Wolf

Die Weite des Landes und der tiefblaue Himmel haben eine beinahe meditative Wirkung auf mich, ich genieße jeden Augenblick. Je länger ich unterwegs bin, desto mehr gelingt es mir, im Hier und Jetzt zu sein. Ich denke nicht mehr darüber nach was ich tun oder mir ansehen sollte – sondern lasse auf mich zukommen, was sich ergibt. Weit weg erscheinen mir nun die Probleme, die mich vor meiner Abreise beschäftigten. Ich hatte so vieles in Frage gestellt: Meine selbständige Arbeit als Journalistin, die unzähligen Herausforderungen des Alltags. Das Leben erschien mir als einzige Anstrengung, ein Dahintänzeln am Rande der Erschöpfung. Und nun, unterwegs durch dieses Land der unendlichen Vielfalt, tun sich plötzlich neue Perspektiven auf. Nun wird mir wieder klar: Es liegt an mir, das Beste aus meinem Leben und meiner Arbeit zu machen.

Noch heute geht es weiter nach Santa Fe, der Besuch dort war der ursprüngliche Grund für meine Reise. Seit Jahren wünsche ich mir, diesen Ort kennen zu lernen, den viele Künstler als magisch und inspirierend bezeichnen. Julia Cameron hat ihr Buch „Der Weg des Künstlers“, hier geschrieben – ein Buch, das mich seit langer Zeit begleitet. Auch in Santa Fe habe ich über Couchsurfing eine Unterkunft gefunden – und auch das ist für mich ein Teil des Abenteuers Reisen: Mich auf jemanden einzulassen, den ich nie zuvor gesehen habe. Es funktioniert: Ich bin beim Couchsurfen noch nie enttäuscht worden.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Ich sitze im Zug Richtung New Orleans, seit Stunden begleitet von sattem Grün auf roter Erde, durchzogen von sumpfigem Boden. Die Sonne bricht immer wieder durch die dichten Bäume, und endlich kann ich es fühlen: Ich bin angekommen auf dieser Reise.

(c) Susanne Wolf

Hinter mir liegt ein kurzer Aufenthalt in Brooklyn, New York und eine 23 stündige Bahnfahrt in den Süden, gefolgt von einem Treffen mit meiner ehemaligen Gastfamilie in Alabama. Tagelang fragte ich mich, wo die Entspannung bleibt, war zu sehr damit beschäftigt, dem Jetlag ein Schnippchen zu schlagen und meine weitere Route zu planen. Und ich traf so viele unterschiedliche Menschen: Hillary, die New Yorker Poetin und Lehrerin; Russ, unermüdlicher Kritiker seines Landes; Bill, mein Sitznachbar im Zug, der mir ein von Zahnlücken durchsetztes Lächeln schenkt und mir von seinen Enkeln erzählt; Nancy und ihr Mann Jay, die sich in Alabama ein stattliches Heim geschaffen haben und es selbstverständlich finden, Waffen zu besitzen – „gut verschlossen“, wie sie betonen.

Das Bahnfahren entschleunigt mich wie immer, und dennoch vergeht die Zeit erstaunlich schnell. Die Sitze sind komfortabel mit viel Beinfreiheit und es macht Spaß, das Zugpersonal bei ihrer Arbeit zu beobachten. Einem Zugbegbleiter beantworte ich die Frage, woher ich komme, mit einem routinierten „Austria, Europe“, in dem Wissen, dass viele Amerikaner Austria mit Australia verwechseln. In schönem Deutsch erzählt er mir daraufhin, dass er vor langer Zeit in Berlin gelebt habe.

(c) Susanne Wolf

Und endlich New Orleans, eine Stadt, die so ganz anders ist als die amerikanischen Städte, die ich kenne. Zak, der Chef meines Guesthouse erklärt mir, weshalb es erst ab 9 Uhr Frühstück gibt: „We take it easy.“ Es mag an den Temperaturen liegen, dass hier alles ein bisschen langsamer abläuft – es ist bereits jetzt im April sommerlich schwül und ich frage mich, wie heiß es wohl im Hochsommer wird. Wegen meiner chaotischen Planung bin ich auf der Suche nach einer Unterkunft für eine Nacht, bevor es weiter Richtung New Mexico geht. Das Wochenende naht und die ganze Stadt scheint ausgebucht zu sein. Also bietet Zak mir ein winziges Zimmer in seinem Guesthouse an und ich lerne die kreolische Hilfsbereitschaft kennen: „This is a little lagniappe from our side“ – eine kleine Aufmerksamkeit, ich muss nichts für diese eine Nacht bezahlen.

Ich verliebe mich sofort in die Stadt: Die Farbenpracht, die Gelassenheit der Menschen, das Lüftchen, das vom Mississippi River herüberweht. An jeder Ecke ist Musik zu hören – von Jazz-Bands in Lokalen bis zu jungen Leuten, die in der Wiese auf ihren Geigen und Banjos üben. Menschen sitzen auf ihren Veranden und rufen mir ein freundliches „Hello“ zu oder haben die Türen zu ihren Häuschen geöffnet. Ich weiß jetzt schon, dass es mir nicht leicht fallen wird, weiter zu ziehen – doch die Weiterreise nach Albuquerque, New Mexico, ist bereits gebucht.

Aufbruchstimmung

Soll ich oder soll ich nicht? Oder vielmehr: Darf ich das? Seit Jahren träume ich davon, mich alleine auf den Weg zu machen, meinen Alltag für einige Wochen hinter mir zu lassen. Die letzten Jahre waren eine einzige Herausforderung: Mein Leben als Selbständige, die Tochter in der Pubertät, der Sohn auf dem Sprung ins Erwachsensein – und ein Mann, der sich vor einigen Jahren ebenfalls selbständig gemacht hat. Das bedeutete einen ständigen Balanceakt am Rande der Erschöpfung, ein hormonelles Auf und Ab – begleitet von der Frage: Geht da noch was?

Der Wunsch, den Alltagspflichten zumindest für einige Zeit zu entkommen, wurde mitunter beinahe übermächtig. Doch immer wieder tauchte die Frage auf: Darf ich das, meinen Mann alleine lassen mit einer Tochter, deren Stimmungen im Stundentakt schwanken? Darf ich mich auf den Weg machen, wenn das Geld ständig knapp ist? Ich beschloss, all diese Fragen mit einem deutlichen JA zu beantworten: Mein 50. Geburtstag sollte der Anlass für eine längere Reise werden. Ich darf, weil ich mir selbst die Erlaubnis dazu gebe. Denn ich spüre es ganz deutlich, wie sehr ich diese Auszeit brauche, wie sehr ich mich danach sehne, alleine unterwegs zu sein. Wenn ich alleine reise, gelingt es mir am besten, ganz bei mir zu sein und mich für neue Ideen zu öffnen. Ich beschloss, über meine Erfahrungen auf dieser Reise zu schreiben.

Reisen haben mich seit meiner Kindheit begleitet. Die Sehnsucht danach, unterwegs zu sein, in andere Kulturen einzutauchen und fremde Menschen kennen zu lernen, gehört zu mir wie eine Extraportion Abenteuerlust. Ich erinnere mich lebhaft an die erste große Reise mit meinen Eltern: Ich war elf, wir brachen spätabends auf, den Kofferraum randvoll bepackt. Im Gepäck hatte ich meine Bücher, unverzichtbar in allen Lebenslagen, neben mir am Rücksitz quetschten sich Onkel und Tante in den kleinen Wagen, um ihre Hochzeitsreise mit uns anzutreten. Wir fuhren die Nacht durch bis zur französischen Grenze und weiter bis nach Nordfrankreich. Die Details sind verschwommen – da waren Picknicks am Straßenrand, Nächte in billigen Hotelzimmern und die großartigen Landschaften der Bretagne und Normandie. Das Meer! Die Klippen! Ich saugte alles in mir auf und konnte nicht genug kriegen von diesem neuen Gefühl.

Die Reiselust ist zu meiner treuen Begleiterin geworden: Nach ein paar Monaten zuhause werde ich unruhig und sehe mich nach einer Möglichkeit um, für einige Tage fort zu kommen. Berufliche Reisen haben mich nach Indien und Westafrika geführt, nach Marokko und Honduras. Und darüber zu schreiben, macht das Reisen erst perfekt. Diesmal zieht es mich in die USA: Meine Reise wird mich von New York, dieser Stadt meiner Träume, in den Süden der Vereinigten Staaten führen. In Alabama wartet meine Gastfamilie auf mich, die mir vor über 30 Jahren für ein Schuljahr ein Zuhause bot. Von dort geht es weiter über New Orleans bis nach Santa Fe, New Mexico – mit dem Zug. Denn beim Bahnfahren gelingt es mir am besten, abzuschalten und den Kopf frei zu kriegen.

Ich werde diese Reise auch unternehmen, um die USA, dieses Land der Widersprüche, neu zu entdecken. Nicht jeder hat Verständnis dafür, dass es mich gerade jetzt dorthin zieht, angesichts eines umstrittenen Präsidenten. Ich antworte darauf stets: „Was würde es ändern, wenn ich zuhause bliebe?“ Lieber möchte ich mir ein Bild von der Stimmung im Land machen und mit den Menschen sprechen. Das allerwichtigste wird jedoch sein, dass ich diese Reise für mich unternehme. Um bei mir selbst anzukommen.

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