Jeder Mensch trägt einen Rucksack mit Ereignissen aus der Vergangenheit mit sich herum. Eine liebe Bekannte, die mir durch ihr (scheinbar) übertriebenes Gesundheitsbewusstsein auffiel, hat mir neulich ihre Geschichte erzählt. Von einem gewalttätigen Vater und einer lieblosen Mutter, von Knochenbrüchen und Schlägen, die dazu führten, dass sie auf einem Ohr taub ist. Sie erzählte mir, dass sie in jungen Jahren als Folge der Gewalt schwer erkrankte und danach beschloss, alles zu tun, um – körperlich und seelisch – gesund zu werden und zu bleiben. Meine Bekannte arbeitet heute als Ärztin und Psychotherapeutin, um anderen Menschen zu helfen, und lebt in einer liebevollen Beziehung. Mir wurde bewusst, wie leicht es ist, über andere zu urteilen, von deren Vergangenheit wir nichts wissen. Und ich empfinde große Hochachtung für diese Frau, die alles tut, um sich mit ihrer Vergangenheit auszusöhnen. Die sich Hilfe holt, wenn ihre inneren Dämonen übermächtig werden.
Ich denke an meine Eltern, die im Krieg geboren wurden und von deren Geschichten ich nur Bruchstücke kenne: der Vater knapp einem Bombardement seines Elternhauses entronnen, die Mutter zu Kriegsende mit den Eltern auf der Flucht. Mein Vater, der zeit seines Lebens keine Gefühle zulassen konnte und kaum anwesend war, meine Mutter, die mit lauten Kindern überfordert war.
Und je mehr ich mich mit Trauma beschäftige, desto klarer wird mir, dass wir alle auf die eine oder andere Weise davon betroffen sind. Die Nachfahren der Kriegsgeneration haben die Traumata der Eltern und Großeltern übernommen. Besonders geholfen hat mir bei dieser Erkenntnis das Buch „Kriegserbe in der Seele. Was Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration wirklich hilft“ von Udo Baer und Gabriele Frick-Baer, zwei Traumatherapeuten. Sie schreiben über Ängste, Schuldgefühle, innere Leere oder Leistungsdruck als Folge von Kriegstraumata. Beschreiben (unausgesprochene) Aufforderungen wie „Stell dich nicht so an“, die viele meiner Generation kennen.
Vielleicht geht es jetzt darum, ein kollektives Trauma zu heilen. Vielleicht müssen einige Menschen jetzt voran gehen, die bereit sind, in die Tiefe zu gehen und ihre Wunden zu versorgen. Womöglich geht es darum, uns dieser Verantwortung und unserer Vergangenheit zu stellen – damit Heilung möglich wird.